Wenn jemand zu mir sagt: „Ich habe eine Vision“, dann schaue ich mir den Menschen mal genauer an: Hat er/sie noch beide Füße auf dem Boden? Doch dann merke ich: Das Wort hat innerhalb meiner Lebenszeit einen Bedeutungswandel erlebt. Früher dachte man an „Erscheinung“ oder „innere Schau“, und es wurde ganz dem religiösen Bereich zugeordnet. Es gehörte zur Sprache der Mystik und wurde kaum verstanden
Heute hört man das Wort überall und zwar meist in seiner säkularen Bedeutung. Es hat zu tun mit Zukunftsplanung, mit Wertvorstellungen und Motivation und einem Leitbild, auf das sich viele Organisationen für ihren jeweiligen Bereich verständigen. Im Management jeder Art geht heute nichts mehr ohne „Vision“.
Eine gute Vision ist ansteckend und verbindet Menschen miteinander. Eine fehlende Vision – was man heute unserer Gesellschaft nachsagt – bringt Spaltung, Machtkämpfe, hat „Sündenböcke“, die stellvertretend in die Wüste geschickt werden und schaut mehr auf das, was uns trennt, als auf das, was uns eint.
Martin Luther King begeisterte Millionen von Menschen mit seinem Wort: „I have a dream…“ und seine Stimme wird immer noch gehört, weil sie einen Nerv der Zeit traf und weil sich sein Traum seitdem nur teilweise erfüllt hat.
Noch immer werden Menschen ausgegrenzt und geringschätzig behandelt. Sollen wir uns damit zufriedengeben, dass es wohl immer so sein wird? Weil wir Menschen ebenso sind, wie wir sind? Weil wir gierig sind und uns ständig mit anderen vergleichen müssen. Außer wir lassen uns erlösen von dem Zwang, immer mehr zu haben, immer schneller zu sein als Andere und unsere Ressourcen immer großflächiger auszuplündern.
Eine Vision vom Frieden für die ganze Welt scheint eine Utopie zu bleiben, weil es so unendlich lange dauert, bis sich auch nur ein einziges Herz verändert. Sind also ein Traum oder eine Vision von vorne herein zum Scheitern verurteilt? Wo ist Gottes Verheißung geblieben? Ist sie nur ein Ziel, das wir nie erreichen werden? Wenn ja, ist es dann nicht besser, realistisch zu bleiben und die „Vision“ als Täuschung zu erkennen?
Es gab einmal jemanden auf dieser Welt, der wurde für seine Vision gekreuzigt. Und seine Vision lebt weiter in denen, die sich anstecken lassen. Und sie hat genügend Potential für die Umwandlung einer Gesellschaft, wenn Menschen dafür brennen. Eine Gesellschaft, die sich an der Bergpredigt (Mt 14-16) ausrichten würde, wäre ein Beispiel.
Eine Kirche, die die Initiative von engagierten Laien zurückweist, ist es nicht. Es sind nicht nur die Kräfte von außen, die die Kirche zerstören. Sie tut es sich selbst an, weil sie vielfach nicht mehr erkennbar ist als die Vision, die Jesus Christus hatte. Ein Keil zwischen Priestern und Laien baut eine Pfarrei nicht auf, sondern macht sie kaputt. Noch mehr Menschen wenden sich tief enttäuscht ab. Eine Instruktion ist keine Vision. Sie grenzt ein und grenzt aus. Wir brauchen aber eine neue/alte Vision, die begeistert.
Deshalb bleiben Menschen, die eine Vision haben, Hoffnungsträger. Sie machen eine andere Zukunft denkbar. Die beschränkt sich nicht nur auf Berechnung und Kalkül, damit etwa ein Projekt gut gelingt. Es geht um eine Zukunft, die die Sehnsucht des Herzens mit einbezieht und die großen Hoffnungen vieler Völker. Menschen der Hoffnung haben Vorstellungen von der Zukunft und fangen an ihrem Platz an, sie zu verwirklichen. Sie finden andere, die ähnlich denken und es entsteht eine Bewegung. Vielleicht gibt es mehr Menschen, die eine Vision haben, als wir denken. Wir sollten sie suchen und uns mit ihnen verbünden.
Jesus versprach uns den Geist, der bei uns bleibt und uns an alles erinnert, was er gesprochen hat – ein Vermächtnis und eine sich ständig erneuernde Vision. Von diesem Blickwinkel aus gesehen, ist es klar, dass wir als Gesendete kommen und nicht im eigenen Namen.
Sr. Pietra Hagenberger
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