Aussenstehende

Manche Wahrheiten unseres Glaubens sind uns so selbstverständlich geworden, dass sie uns nicht mehr sonderlich berühren oder gar beunruhigen. Wir „wissen“, dass Christus sich mit dem Bruder, der Schwester, identifiziert hat und haben die Reihe der Betroffenen sogar um ein beträchtliches Vokabular erweitert: Obdachlose, Flüchtlinge, Migranten, Alkohol-, Drogen- oder Tabletten-Süchtige und seit neuestem die „virtuell“ Süchtigen, die nur noch auf ihr Handy fixiert sind. Die Antwort auf die Frage :“Wer ist denn mein Nächster?“ geht uns leicht von den Lippen. Jeder natürlich, denn Christus hat sich mit jedem Menschen identifiziert. Wie „hautnah“ ist die eigene Erfahrung hinter dieser Erklärung?
Die Menschengestalten des obigen Bildes stehen dem Betrachter sehr plastisch gegenüber: zwielichtige Typen, misstrauisch, mit allen Wassern gewaschen, resigniert und trotzdem herausfordernd – eine ganze Skala von Empfindungen ist in der Darstellung eingefangen. Der Betrachtende kann sich eines Gefühls der Unsicherheit nicht erwehren. So leicht ist an diese Menschen nicht heranzukommen. Ihre Welt ist nicht meine Welt. So viel steht dazwischen: das Milieu, der Lebensstandard, das kulturelle Niveau, der fremde und deshalb angsteinflößende Hintergrund, die andere Religion, die fremde Sprache viele und jahrhundertealte Vorurteile. Die Liste ließe sich fortführen. Hat sich Christus wirklich mit all denen identifiziert? Ist es nicht ein bisschen viel verlangt, dass sie uns etwas angehen sollen? Schon allein, weil es so viele sind. (Coole Ausrede! Wer sagt denn, dass ich einem nicht zu helfen brauche, nur weil ich Tausenden nicht helfen kann??)
Dennoch wird es einmal keine Entschuldigung dafür geben, dass wir Christus in dieser Welt nicht erkannt haben, wir, die wir uns auf sein Wort berufen. Und es wird vielleicht eine Überraschung geben: dass er sich erkannt gefühlt hat von Menschen, die doch nur den armen Kerl von nebenan gemeint haben oder die verfrorene Bettlerin auf dem Steinboden vor dem Kaufhaus.
Wir neigen manchmal dazu, absichtsloses menschliches Gutsein als profan abzutun. Das rein Humane genügt uns nicht. Ob wir es dabei nicht ganz übersehen? Jesus jedenfalls antwortete denen, die aus rein menschlichen Motiven einem anderen ein Glas Wasser reichten, dass ihm das genügte, um den Gebenden als „Gesegneten seines Vaters“ zu benennen. Wessen Herz für einen Armen schlägt, der steht als Bruder oder Schwester neben ihm, nicht über ihm. Ist das vielleicht der Grund, warum Menschen wie die im Bild, sich so schwer tun, Almosen anzunehmen? Weil sie sich dadurch gedemütigt fühlen. Weil ihnen Menschenrechte zustehen und nicht Brösel, die vom Tisch der Reichen fallen.
Der Tod von George Floyd hat die ganze Welt erschüttert. Sein Schrei: “Ich kann nicht atmen“ wird noch lange nachhallen. Das Problem, dass Menschen andere Menschen unmenschlich behandeln, gibt es nicht nur in den USA. Es ist direkt vor unserer Haustür. Oder sogar noch näher: Es ist in Ansätzen in unserem eigenen Herzen. George Pennington, ein Psychologe und Konflikttrainer, nennt die Geringschätzung den Ausgangspunkt für Hass und Gewalt. Also beginnt Friedensarbeit mit der grundsätzlichen Wertschätzung der Anderen.
Wer sagt, dass wir hier nicht ansetzen können mit unserer Arbeit für den Weltfrieden? Es ist immer das eigene Herz, wo Veränderungen beginnen.
Mein Herz ist der einzige Ort, dessen Lokalkolorit ich frei bestimmen kann.
Schwester Pietra Hagenberger