Von meinem Bürofenster aus sah ich ihn jeden Tag – den „Schiefbaum“, wie wir ihn nannten. Ich war vorher noch nie so nahe zusammen gekommen mit einem Baum, der sich so sehr anpassen musste an seine Umgebung.
Seine Heimat war ein Abhang. Zuerst tat er so, als ob das ganz normal wäre und wuchs mit aller Kraft. Doch bald merkte er, dass er seinen Stamm nicht länger strecken konnte, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Er verteilte sein Gewicht auf drei Äste und wurde stark und kräftig. Er konnte sich ohne Belastung der Sonne zuwenden und den Vögeln in seinen Zweigen und Blättern Schutz bieten. Seine Äpfel waren klein aber schön anzuschauen.
Stürme erschreckten ihn nicht – er konnte seine Balance halten. Kleine Buben, die an ihm die ersten Kletterübungen machten, entzückten ihn. Er war rundum zufrieden.
Es war ihm klar, dass er ein bisschen anders aussah als die anderen, aber er fühlte sich sowohl in seinem Baumkörper, dass er nicht oft an sich selber dachte, sondern einfach so war, wie er eben war und sich wohl fühlte in seiner Umgebung. Die Rehe vom Wald nebenan ließen ihn in Ruhe (während sie unsere Tulpen köpften), nur unser Kater umschnurrte ihn gelegentlich. Ein Regenbogen schloss ihn manchmal in seine Wölbung ein und gab ihm einen wunderbaren Rahmen.
Ob er wohl je gemerkt hat, dass er auch ein Lehrmeister für uns war?
Das Leben mutet uns so manches zu und viele Situationen werfen uns leicht aus der Bahn. Wir drohen unsere Balance zu verlieren und fühlen uns unfähig, uns gegen die Schwerkraft zu stemmen. Traurigkeit will uns in Beschlag nehmen.
Was hat der Baum in ähnlicher Situation getan? Er krallte sich fest in den Boden und schickte seine Wurzeln so weit in das Erdreich, wie später seine Krone werden sollte. Er wusste, dass Sonne und Regen und Wind ihm dabei helfen würden. Er bildete sich nicht ein, alles aus eigener Kraft schaffen zu müssen. Er wurde dankbar.
Und wir Menschen? Haben wir eine Tiefe, in die wir eintauchen können, eine Hoffnung, die uns hält und uns weiterwachsen lässt? Die uns daran hindert, in der Verkrüppelung und Selbstumkreisung zu bleiben? Ja, es gibt sie.
Unsere Seele hat eine ganz eigene Klarsicht, die weiß, wohin wir uns wenden können. Einer, dem wir glauben, hat gesagt: „Ich bin bei Euch alle Tage bis ans Ende der Welt.“ (Mt 28) Wie der Baum von seiner Umgebung geprägt ist und Gott ausatmet, so werden wir geprägt von unserem Schicksal und vom Geist Gottes, der uns immer wieder mit frischem Leben durchströmt. Wenn uns das von neuem bewusst wird, werden wir wieder dankbar. Gott ist in allem, was ist.
Helfen wir uns gegenseitig, wieder aufzuwachen zu dieser Wirklichkeit. P.H.
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