Die Buntheit des Herbstes ist nicht mehr die satte Farbigkeit des Sommers. Es fehlen ihr der Überschwang der Möglichkeiten und die schiere Unerschöpflichkeit der Ausdrucksformen. Die meisten Früchte sind geerntet.
Die Bänke in den Parks werden mir wichtig. Ich brauche öfter mal eine Pause. Die Treppen hinauf zu den Haustüren sind mir vorher gar nicht aufgefallen. Ein Haus mit oder ohne Aufzug löst Erleichterung oder Unsicherheit aus. Die Beweglichkeit meines Körpers ist jetzt immer ein Faktor in der Berechnung meines Aktionsfeldes. Früher habe ich ihn benutzt ohne viel nachzudenken. Jetzt bin ich dankbar für das, was er mir noch erlaubt.
Ich spüre die Verantwortung für meine eigenen Stimmungen und für mein Verhalten Anderen gegenüber. Es gibt eine Disziplin im Alter, von der ich früher nichts wusste. Nur scheinbar ist es tröstlich, sich gehen zu lassen. Den anderen meine Launen zu ersparen, wird mir wichtig. Ich suche eine Freiheit, die tiefer geht als Wohlbefinden und das Freisein von Beschwerden. Ich suche die Freiheit für das absolut Gute und ich weiß, wo ich sie finde. Es gibt einen, der sie gefunden hat – allerdings um den Preis seines Lebens: Jesus Christus. Er glaubte an den Sieg des Guten, weil er den Gott der Liebe kannte. Er wurde ermordet, weil die Anderen sein Gutsein nicht aushalten konnten. Er hat sie gestört in ihrem Machtanspruch und ihrem Kalkül. Er gab Antworten auf Fragen, die sie hassten. Er stand als freier Mann vor ihren Anschuldigungen. Sein Reich war eben nicht von dieser Welt… „Er kam in sein Eigentum, doch die Seinen nahmen ihn nicht auf“, heißt es im Prolog des Johannes-Evangeliums. Er stand als Nicht-Verstandener unter Verständnislosen. Was für eine Berufung, was für ein Schicksal!
Der Herbst des Lebens muss das Vergangene nicht verklären, aber er wirft ein milderes, versöhnliches Licht auf alles. Auch auf das, was sich als eigene Schuld herauskristallisiert. Es taucht auf in der abklingenden Biografie des Lebens, damit ich es noch einmal anschaue und es in der Gegenwart Gottes ausheilen kann. Das ist etwas ganz anderes als ein Sich-selber–fertig-machen durch echte (oder falsche) Schuldgefühle. Ich gebe einfach zu, dass ich ein Mensch bin, nicht mehr und nicht weniger. Ich gebe zu, dass ich nicht perfekt bin (als ob das je ein erstrebenswertes Ziel wäre!) Ich brauche nicht klein zu reden, dass ich Andere verletzt habe aber ich darf auch freudig erkennen, dass ich für andere wichtig war und noch bin. Die Farben des Herbstes haben beides, die Erinnerung an den Reichtum des Lebens und die Schwermut des Abschieds. Sie leuchten von innen her.
Setzen Sie sich doch zu mir auf die Bank und lassen Sie uns einander erzählen, wie wir unsere „Jahreszeiten“ erlebt haben.

Und glaube ja nicht
Dass der Garten im Winter
Seine Ekstase verliert.
Er ist still
Aber die Wurzeln sind aufrührerisch
Ganz tief da unten.
Rumi

Text: Sr. Pietra Hagenberger
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