„Früher war fast alles Sünde, und heute ist sie praktisch verschwunden“, klagte meine Nachbarin. Sie war verwirrt und verunsichert. Gibt es die Wahrheit, dass wir Menschen Sünder sind, nicht mehr? Unsere Kirche hat das Wort „Sünde“ in der Vergangenheit überstrapaziert. Und viele Menschen lassen sich nicht länger einordnen in ein starres System.
In der Schule fragte mich einmal ein Zwölfjähriger, was der Unterschied zwischen schweren und lässlichen Sünden sei. Das mit den schweren Sünden verstehe er noch, aber die lässlichen? ? Sind das die, die man auch lassen könnte??? Er fragte ohne Hinterlist. Er wollte es einfach wissen.

Das war vor langer Zeit. Seitdem hat sich am kirchlichen Lehramts-Vokabular nicht viel geändert. Aber die Menschen haben sich verändert und brauchen eine andere Sprache, um sich angesprochen zu fühlen

Wie erfrischend sind dagegen viele Worte der hl. Schrift. Sie setzen beim Leben an, holen uns ab, wo wir stehen. „Wenn unser Herz uns anklagt“… . Wer hätte das noch nicht erfahren, dass wir Dinge sagen oder tun, die nicht mit unseren sonstigen Wertvorstellungen übereinstimmen? Wie konnte ich nur?
Ich verstehe es nicht mehr, und doch ist es ein Teil von mir. Ich kann es nicht einfach beiseiteschieben. Wenn es sich immer wieder meldet, will es bearbeitet werden.
Wie gehe ich also mit meiner echten Schuld um? Was tue ich, wenn mein Herz mich anklagt? Die hl. Schrift zeigt mir, dass ich zuerst meine Blickrichtung ändern muss, weg von mir selbst, auf Gott hin. „Er ist größer als unser Herz“.

Ich verlasse also meine kleine Insel und lasse mich von ihm ins Weite führen, in seine Welt. Ich überlasse mich seiner Barmherzigkeit und Liebe.
Es tut gut, sich vor Gott hinzustellen, ohne dass man etwas verbergen muss, denn „er weiß alles“.

Er kennt die Abgründe unserer Seele, vor denen wir erschrecken.

Er schaut jeden an und starrt nicht auf das Bündel, das wir mittragen. Wir sind ihm wichtig, nicht unsere Last. In der Person Jesus Christus ist er gekommen, damit uns unsere Schuld nicht erdrückt. Wir dürfen sie abgeben, denn Christus hat uns selbst dazu aufgefordert.

Die „Freiheit der Kinder Gottes“ sollen wir erfahren, und die besteht nicht in der Absonderung von Gott (Sünde), sondern darin, dass wir uns seiner Anziehungskraft immer mehr überlassen. Es gibt einen Sog des Bösen, der uns diese Freiheit streitig machen will. Christus steht an unserer Seite, in seinem Geist umfängt er uns, und manche Schuld wird zur „felix culpa“, wie wir sie in der Osternacht besingen.

Sei dankbar,
wenn dein Herz dich anklagt,
denn es beweist
dass dein Herz nicht aus Stein ist.
Du hast ein fühlendes Herz,
das die Not der anderen spürt.
Ein Herz aus Fleisch und Blut,
das lachen und weinen kann.
Du hast einen Gott, der alles weiß.
Einen Gott, der so groß ist.
dass er dich nicht verurteilen muss.

Text: Sr. Pietra Hagenberger
Foto: Pfr. Dietmar Schindler