Kreuz

Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf…

Prolog des Johannes-Evangeliums

Seit einigen Jahren fragt die christliche Spiritualität verstärkt danach, wie Jesus sich selbst verstanden hat und wie er mit seinen Lebensumständen umgegangen ist. Aus dem NT können wir entnehmen, dass er vom ersten Augenblick seines öffentlichen Auftretens an auch mit Misstrauen und Feindseligkeit konfrontiert wurde. Er war einer, der das Establishment störte. Sein Welt- und Menschenbild hätte zu viel Umdenken gefordert und seine Gottesbeziehung war einfach ungehörig in ihrer Intimität.
Wie diese Beziehung im Laufe seines Lebens gewachsen ist, davon wissen wir fast nichts. Wir lernen Jesus kennen als jungen Rabbi, der in einzigartiger Weise von Gott erfüllt war und eine Botschaft brachte, die bis heute die Welt zum Guten verändern könnte und kann.
Nach seiner Taufe im Jordan und den 40 Tagen in der Wüste, war er bereit für seine Sendung. Er wusste, dass sein Leben nicht mehr ihm selbst gehörte, sondern einer Aufgabe, die alles von ihm forderte. Er würde sie bestehen „in der Kraft des Geistes“, wie es heißt. Ob er eine Ahnung hatte, was sie alles einschloss??
Die hl. Schrift beschreibt kaum Gefühle. Man muss sie zwischen den Zeilen lesen. Wenn man das Wort Gottes „in seinem Herzen bewegt“, wie es Maria getan hat, oder es „verkostet“, wie Ignatius es nennt, dann bekommt man seinen Geschmack zu spüren. Man muss mit seinem ganzen Leben hineingehen in diese Worte, um sie immer ganzheitlicher zu verstehen. – Die hl. Schrift ist herb in ihrer Ausdrucksweise und überlässt es dem Hörenden, dem Lesenden, sich einzufühlen. Die Gnade wird ihn/sie führen
In Lk 4,16ff. wird geschildert, wie Jesus am Sabbat in Nazareth, seiner Heimatstadt in die Synagoge geht. Man reicht ihm die Thora und er liest vor:

Der Geist des Herrn ruht auf mir, denn er hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze …

Jesus erkennt sich selbst und seine Berufung im Text der Väter. Er ist der Christus, auf den die Welt wartet. Wie würde es uns ergehen, wenn wir den Sinn unseres Lebens so klar formuliert vor uns sähen? Wenn wir in einem Augenblick erkennen könnten, wozu wir auf der Welt sind?
Um die tiefe Betroffenheit Jesu zu zeigen, verwendet der Evangelist Lukas nun das literarische Stilmittel der Zeitdehnung, wie ich es nirgendwo sonst in der Schrift gefunden habe. Dieses Stilmittel bewirkt eine ungeheure Dichte des Erzählens: Die Zeit hält den Atem an.

Dann schloss er die Buchrolle … gab sie dem Synagogendiener — und setzte sich … Die Augen aller in der Synagoge waren auf ihn gerichtet ….Da begann er ihnen darzulegen: Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt…

Jesus erkennt, dass er gemeint ist. Er ist tief bewegt und das überträgt sich auf seine Zuhörer:

Alle stimmten ihm zu; sie staunten über die Worte der Gnade, die aus seinem Mund hervorgingen…

Und dann passiert, was ihm noch oft geschah: Irgendeiner (Es könnte jeder sein) bricht aus dem Verstehen und Staunen aus und macht die Atmosphäre kaputt durch die banale Frage: Ist das nicht Josefs Sohn? (Wie kann denn der so reden?) Der Bereich des Heiligen ist zerstört. Jesus muss erleben, dass er dem dummen Gerede abgestumpfter Herzen ausgeliefert ist. In seiner Heimatstadt hat man sich nämlich ein Bild von ihm gemacht und wehe, er bleibt nicht in diesem Rahmen! Dann schwirrt es nur so von Vermutungen und Vorurteilen bis hin zur Gewalt. „…und die Seinen nahmen ihn nicht auf…“ Jesus war ein sehr empfindsamer, einfühlsamer Mensch. Sein „Leiden“ beginnt nicht erst mit seiner Gefangennahme und Kreuzigung. Er hat Demütigung, Unverständnis und offene Feindschaft erlebt – und er bleibt seiner Sendung treu. Ecce homo! Welch ein Mensch! Sr. Pietra Hagenberger

Kontakt zu Sr. Pietra pietrah@schulschwestern.de