Der berühmte Geiger Joshua Bell wurde einmal von der „Washington Post“ zu einem Experiment eingeladen. Er sollte in einer U-Bahnstation spielen, und die Passanten wurden beobachtet in ihren Reaktionen.
Er war angezogen wie ein normaler Straßenmusikant. Die Menschen strömten vorbei, Kinder wollten stehenbleiben, wurden aber von den Müttern weitergezogen. Einige Vorübergehende warfen ein paar Münzen in seinen Geigenkasten. Ein Student hörte längere Zeit zu. Bell brachte $ 12,60 zusammen in der halben Stunde, die er spielte. Er spielte eines der schwersten Werke von Bach auf einer Geige, die Millionen Dollar wert war. Keiner erkannte den Künstler oder den wunderbaren Klang seines Instruments. Es waren aber Leute unter den Passanten, die am darauffolgenden Wochenende in sein Konzert kamen und mindestens $200 für ihre Karte bezahlten.

Sinn des Experimentes war es, herauszufinden, ob Qualität ein bestimmtes Umfeld brauchte, um erkannt zu werden: also klassische Musik den Konzertsaal und den schwarzen Anzug. Sonst wird große Kunst also nicht erkannt? Was spielt da mit uns Schabernack?
Es ist der sogenannte „blinde Fleck“, der unsere Wahrnehmung einschränkt.
Ich erinnere mich an eine Begebenheit, die mir selbst passiert ist. Es war vor vielen Jahren auf einer Visitationsreise im Amazonasgebiet Brasiliens. Ich besuchte unsere Schwestern in einem Dorf im Urwald, das es erst seit 5 Jahren gab. Die Schwestern erzählten mir, dass Bischof Kräutler auch gerade dort war und meinten, ich solle ihn doch besuchen. Als ich zu dem Holzhaus kam, in dem er wohnte, sah ich einen Gartenarbeiter im Drillichanzug, der die Erde umgrub. Ich war höchst erstaunt, als er mir sagte. er sei Bischof Kräutler. Bei einer Tasse Tee und einem langen Gespräch durfte ich diesen wunderbaren Menschen ein wenig kennen lernen. Ich hatte eine andere Vorstellung von Bischöfen gehabt. Seitdem bin ich vorsichtiger geworden. Was ich sehe und blitzschnell interpretiere, ist nicht unbedingt die ganze Wahrheit.

Jeder Mensch hat diese blinden Flecken, und keiner gibt es gerne zu. Es kann sogar peinlich werden, denn Andere sehen unsere blinden Flecken oft sehr genau. Sie können sie uns um die Ohren hauen oder, wenn es Freunde sind, sie uns hinhalten wie einen Mantel, in den wir hineinschlüpfen können. Einige blinde Flecken aufzulösen, ist Aufgabe meiner Menschwerdung und dauert ein Leben lang.
Ein anderes Beispiel für blinde Flecken sind Vorurteile. Jeder hat sie, ob er es wahrhaben will oder nicht. Sie sind eine Mitgift der Menschheitsgeschichte. Zu meinen, dass ich eine Ausnahme bin, ist naiv. Ich kann nur hoffen, dass ich einige Vorurteile erkennen und auflösen darf. Sie vergiften das Klima unter uns und säen Misstrauen und Ausgrenzung. Das zu sehen, was uns verbindet, ist mehr als alles Trennende. Unser Gott liebt uns alle, und es ist das Vermächtnis Christi, dass wir einander lieben. Liebe nimmt uns alle Überheblichkeit. Wir müssen zugeben, dass wir viele unserer blinden Flecken der Barmherzigkeit Gottes überlassen müssen, weil wir sie einfach nicht sehen.
Manche andere Beispiele zeigen, dass es oft unsere Erwartungen sind, die unser Sehen blockieren. Es kann nicht sein, was wir uns nicht vorstellen können.
Lesen wir die Geschichten nach der Auferstehung Jesu. Die Jüngerinnen und Jünger Jesu trauern um den Toten und erkennen nicht den Lebenden, der vor ihnen steht . “Ihre Augen waren gehalten und sie erkannten ihn nicht.“

Das krasseste Beispiel für einen blinden Fleck steht auch in der Bibel:
„Was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, und den Balken in deinem Auge beachtest du nicht?“ (Mt 7,3f)
Was bewegt uns dazu, zweierlei Maßstäbe anzulegen, einen für uns und einen für die Anderen? Es spielt sicher mit, dass wir unser eigenes Menschsein so schlecht verkraften. Wir spüren immer wieder, dass wir nicht perfekt sind, und wir schämen uns dafür. Deshalb haben wir das Spiel erfunden: „ich bin okay, du bist nicht okay“ (Transaktionsanalyse). Dabei würde das Leben für alle leichter, wenn ich sie/ihn so lassen könnte, wie er/sie ist. Dann könnte ich auch eher glauben, dass ich selber wirklich okay bin.
Sr. Pietra Hagenberger

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