Mein Leben – eine neue Übersetzung des Evangeliums?

Was finde ich nicht alles im Evangelium:
• Verkündigung und Erwartung
• Träume und Sehnsüchte
• Hoffen und Scheitern
• Durchkreuzte Pläne und unerwartete Öffnungen
• Korrektur und neue Ausrichtung
• Dunkelheit und offene Fragen
• Verheißung und nie geahnte Perspektiven
• Tradition und neues Denken
• Schuldig werden und Vergebung
• Zartheit und Beheimatung
• Zukunft und Gnade

Das alles gehört auch zu meinem Leben. Das alles wurde aber auch schon vor mir erlebt und erfahren. Es geschieht im Zyklus eines Menschenlebens. Die Orte, die Zeit und die Kulturen sind unterschiedlich, jede Generation hat ihre eigenen Schwerpunkte. Das gilt auch für Jesus und für die Menschen um ihn herum. Was gleich bleibt, ist die Suche nach Gott und die fassungslose Erkenntnis, dass dieser Gott ein Gott der Liebe ist, der auch mich schon immer gesucht hat.
Was ist mit dem Menschen Jesus passiert in den 30 Jahren, von denen wir nichts wissen? Er wurde in den kurzen Jahren von Gott erfüllt bis zum Rand. Nicht herausgehoben oder elitär ausgebildet. Einfach im Alltag von Gott hineingeliebt in Gottes Welt, in seine Gedanken, in sein Reich. Als die „Fülle der Zeit“ gekommen war, trat er öffentlich auf und hatte nicht nur etwas zu sagen, sondern berührte Menschen in der Tiefe ihres Seins und in ihrer Ur-Sehnsucht. Er wurde zum Christus, zur Wahrheit, zum Leben und zum Weg für alle, die ihn kennen und lieben gelernt haben. In ihm hat Gott ein Gesicht bekommen, in dem wir lesen können, wie Gott ist. Ist es zugleich ein Spiegel für uns, der uns zeigt, inwieweit wir „ein anderer Christus“ geworden sind? Das darf man nur fragen, wenn man sein Menschsein voll akzeptiert, denn nur so ist die Frage arglos wie ein Kind. Die Gnade ist in der Ohnmacht mächtig.
Jesus nachfolgen heißt, in seinen Gedanken, Worten und Taten zu leben. Das ist ein Prozess, kein Zustand. Wir bleiben Suchende unser Leben lang. Und wir sehen nicht immer, wo wir gerade stehen. Aber, wie R. Tagore es ausdrückt: „…wie ich so dahin wandere, lehne ich mich an dich.“ Im Laufe der Zeit werden wir gewahr, wer dieser Jesus für uns geworden ist.
Wie kann man einen nicht lieben, der sich so verliert an seine Sendung? Wie kann man einem nicht nachfolgen, der seiner Berufung treu bleibt bis zu letzten Atemzug? Wie kann einen einer nicht erschüttern, der so ist wie er?
Wie kann mich dieser Jesus kalt lassen?

Sr. Pietra Hagenberger
Bild: Kloster Sießen: Christus 12 Jhd,